Ansichten
zu Politik und Recht

Eugen David

Schweizer Sonderweg in Europa

In offiziellen Verlautbarungen zu den Beziehungen zur EU ist nicht mehr vom Königsweg, sondern vom Sonderweg der Schweiz die Rede.

Als neutraler „Sonderfall“ verstand sich die Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg, während des Kalten Kriegs bis zum Mauerfall. Das lernte damals jeder Rekrut in der obligatorischen Rekrutenschule. Der Schweizer „Sonderweg“ in Europa reiht sich psychologisch in die Historie des „Sonderfalls“ ein.

Bewegung in der Kommunikation

Der Öffentlichkeit wird seit Neuestem mitgeteilt, es sei logisch, dass im europäischen Binnenmarkt für alle beteiligten Länder dieselben Regeln gelten. Also auch für die Schweiz, wenn und solange sie sich mit den Bilateralen Abkommen am Binnenmarkt beteiligen will.

Selbst die NZZ meint aktuell (05.04.2019): „Das Beharren der EU auf einem institutionalisierten Prozedere, das sicherstellt, dass die Schweiz dort, wo sie mitmacht, nach gemeinsamen Regeln spielt, ist nachvollziehbar.“

Mitentscheidung wäre ein Tabubruch

Ist dies einmal anerkannt, besteht der der Sonderweg der Schweiz nur noch darin, dass sie an der Gesetzgebung und der letztinstanzlichen Rechtsprechung über das in der Schweiz geltende Binnenmarktrecht in den europäischen Institutionen nicht mitwirkt und auch nicht mitwirken will.

Bilateralisten sagen dem: “ Mitmachen, um nicht beitreten zu müssen.“

Vor 25 Jahren, zu Zeiten von Staatssekretär Franz Blankart, hiess der Satz: „Beitrittsfähig bleiben, um nicht beitreten zu müssen.“ Gemeint war damit ein europapolitisches Rezept: autonomer Nachvollzug. Souveränität zum Schein und zur Ruhigstellung der Rechtsnationalen.

Heute meint „bilaterales Mitmachen“: laufende einseitige Rechtsübernahme, ohne Mitentscheidung und ohne Souveränität zum Schein. Ehrlicher.

Eine geteilte Souveränität in den europäischen Institutionen wird nach wie vor abgelehnt.

Das wäre mit einem EU-Beitritt verbunden. Was in der aktuellen politischen Landschaft in Bundesrat und Parlament diskussionslos – im Sinne der rechtsnationalen Glaubenssätze – als schlimmstmöglicher nationaler Tabubruch gilt.

Brexiteers und Remainers in Grossbritannien bezeichnen den schweizerischen Bilateralismus als EU-Vasallentum und lehnen ihn ab.

„Souveräner“ Sonderweg?

Die offizielle Schweiz sieht das anders.

Der schweizerische Bilateralismus gilt als besonders souverän. Wahrscheinlich, weil er 1992 von den Rechtsnationalen im Kampf gegen den EWR gefordert und vom Bundesrat nach seiner Niederlage übernommen worden ist.

In ihrem neusten Paper vom März 2019 versprechen die Rechtsnationalen dem Schweizer Publikum - wie seit eh und je - eine bilaterale Beteiligung am europäischen Binnenmarkt sei möglich, ohne dass die Schweiz die gemeinsamen Binnenmarktregeln einhalten müsse. Daher könne der Rahmenvertrag ohne weiteres abgelehnt werden.

Dieser Nonsens findet nach wie vor viel Zustimmung in Politik und Medien.

Anspruch auf „spezielle Lösungen“?

Die Anhänger des Bilateralismus behaupten, mit dem Institutionellen Abkommen (= Rahmenabkommen) könne die Schweiz weiterhin einen bilateralen Sonderweg mit speziellen Lösungen beanspruchen.

Sie können sich nämlich über ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung und Anwendung des europäischen Binnenmarktrechts hinwegsetzen. Sie müsse dann lediglich damit rechnen, dass die EU Gegenmassnahmen bis hin zur vollständigen Suspendierung der betroffenen Abkommen ergreifen könne.

In dieser Guillotine sehen Bilateralisten einen Rechtsanspruch auf ein „Opting out“ vom Binnenmarktrecht.

Tatsächlich ist die Schweiz bei Verletzung des Binnenmarktrechts schlechter gestellt und stärkeren Pressionen der europäischen Institutionen ausgesetzt als ein EU-Mitgliedstaat. Ein bilateraler Sonderweg mit ausgesprochen negativem Touch.

Sonderweg für „Lohnschutz“?

Die Bilateralisten loben den Schweizer Sonderweg in Sachen „Lohnschutz“.

Bislang hat die Berner Politik unterstrichen, der Standort Schweiz habe deshalb wirtschaftliche Vorteile, weil die Arbeitsmarktregulierung hierzulande weniger rigide sei als jene der EU.

Jetzt ist eine 180-Grad-Wende angesagt.

Die Schweiz will den Arbeitsmarkt intensiver regulieren als die Europäer. Das verlangen Gewerkschaften und Gewerbeverband. Und sie finden viel Unterstützung in Politik und Medien.

Bundesrat Cassis hatte die diskriminierende 8-tägige-Voranmeldefrist für Handwerksbetriebe aus dem angrenzenden Binnenmarkt-Ausland zur roten Linie der schweizerischen Europapolitik erklärt. Die Vorschrift sei unverzichtbarer Bestandteil der schweizerischen Sozialpartnerschaft.

Es gehe um Lohnschutz. Tatsächlich geht es um eine einseitige bürokratische Schlechterstellung der Konkurrenten aus benachbarten Binnenmarktländern. Mit dem banalen Ziel, sie von Aufträgen aus der Schweiz fern zu halten.

Wäre Lohnschutz das Thema, könnte das Parlament unter dem geltenden Binnenmarktrecht per Gesetz flächendeckend hohe Mindestlöhne mit rigorosen Lohnkontrollen einführen, allerdings nicht nur für die Konkurrenten aus dem benachbarten Ausland, sondern für alle Betriebe, auch die schweizerischen. Da wäre dann der Gewerbeverband nicht mehr dabei.

In den bilateralen Verträgen hat sich die Schweiz 1999 ausdrücklich zu einer Gleichbehandlung der Betriebe verpflichtet. Über diese bilaterale Abmachung setzt sich der Bundesrat seit mehr als 10 Jahren hinweg. Und hat damit die Forderung der EU nach einem Rahmenabkommen erst ausgelöst.

„Mitspracherechte“?

Die Bilateralisten rühmen die „umfassenden Mitsprecherechte“ der Schweiz laut Institutionellem Abkommen.

In Rechtsetzung und Rechtsprechung des europäischen Binnenmarktrechts hat die Schweiz, als Drittstaat, nach dem Abkommen nichts zu sagen.

Die EU-Verwaltung will Fachleute aus betroffenen Unternehmen und aus der Bundesverwaltung anhören, sofern die Schweiz von Rechtsänderungen betroffen ist. Im Gemischten Ausschuss können CH-Beamte und EU-Beamte auf Verwaltungsebene darüber diskutieren.

Wenn bei der Vorbereitung von Binnenmarkt-Erlassen EU-Verwaltungsstellen Eingaben von Wirtschaftskreisen und Bundesstellen entgegennehmen, hat dies nichts mit einer Teilnahme an Gesetzgebung und Rechtsprechung im europäischen Binnenmarkt zu tun.

Faktisch laufen alle relevanten Beziehungen im Verhältnis Schweiz-EU auf der Ebene unterer Verwaltungsstellen ab, ausserdem über Wirtschaftslobbyorganisationen. Die Schweizer Unternehmen stecken mehr Geld in das Lobbying in Brüssel als in Bern. Warum? Weil in der EU die wirtschaftsrelevante Gesetzgebung auch für die Schweiz stattfindet, nicht in Bern.

Verwaltungsweg für die Eidgenössischen Räte

Der EU-Beamte, der sich im European External Action Service, neben San Marino, Andorra etc., auch mit der Schweiz beschäftigt, befindet sich auf der sechsten Hierarchiestufe der EU-Verwaltung.

Er widmet sich jeweils der Schweizer Parlamentarierdelegation bei deren Besuchen in Brüssel. Die Delegation darf mit ihren Kollegen aus der EU-Delegation Resolutionen verfassen. Diese lösen kein Echo aus, weder in der Schweiz, noch in der EU.

Dass auf der Ebene der Eidgenössischen Räte irgendeine „Mitsprache“ in Angelegenheiten des europäischen Binnenmarktrechts stattfinden würde, kann beim besten Willen nicht behauptet werden.

Eine Mitsprache besteht nicht einmal Schweiz-intern, in Bezug auf die Schweizer Vertretung in den Gemischten Ausschüssen. Das ist ausschliesslich Sache der Bundesverwaltung. Daran ändert das Institutionelle Abkommen nichts.

Seit dem Vertrag von Lissabon werden die nationalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten im Sinne der geteilten Souveränität in den europäischen Gesetzgebungsprozess für Binnenmarktrecht formell einbezogen.

Obwohl Binnenmarktrecht in der Schweiz angewendet wird, hat der Schweizer Gesetzgeber mit dem Erlass von Binnenmarktrecht nichts zu tun. Er kann – wenn überhaupt – nur die Übernahme konstatieren.

In der Tat ein Sonderweg, allerdings ohne jede souveränitäts- und demokratiepolitische Perspektive. Am Ende doch nur Vasallentum?

Niemand zwingt die Schweiz, sich am europäischen Binnenmarkt zu beteiligen.

Wenn sie es tut, sollte sie es aus Selbstachtung als EU-Mitglied tun, mit Beteiligung an der europäischen Gesetzgebung und Rechtsprechung, d.h. mit Vertretung in den Europäischen Institutionen, und nicht als bilateraler Empfänger von EU-Recht, eben als EU-Vasall.

Selbstverständlich kann die Schweiz in demokratischer Volksabstimmung auch den rechtsnationalen Sektierern auf ihrem Sonderweg folgen, aus dem europäischen Binnenmarkt austreten, die Grenzen gegen den freien europäischen Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Finanzmarktverkehr dicht machen und sich politisch und wirtschaftlich von Europa abschotten.

Was nicht funktioniert: die Beteiligung am europäischen Binnenmarkt fordern und gleichzeitig die Einhaltung der gemeinsamen europäischen Binnenmarktregeln ablehnen.

05.04.2019

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